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Das Blumenkind des Bösen

November 15, 2013

Andrea Schroeder

Das Blumenkind des Bösen

Andrea Schroeder geht durch die große Stadt. Eine Stadt, die mit jedem Schritt größer wird. Schneller, höher und uferlos weit. Beschienen von Kunstlichtern. Kühl. Grobkörnig. Schwarz-Weiß. Andrea Schroeder verweilt. Blickt. Sehnt. Horcht. Horcht den Bildern hinterher. Jedes trägt Worte in sich. Und ist randvoll mit Noten.

Texte explodieren in Klänge

Andrea Schroeder wendet dem Betrachter bisher den Rücken zu. Bückt sich hier. Bückt sich dort. Pflückt etwas. Als sie sich endgültig umwendet, trägt sie Blumen im Arm. Zehn Schwarze Rosen. Jede Rose ein Lied. Und die finden sich auf „Where The Wild Oceans End“, dem Nachfolge-Album von Andrea Schroeders Erstling „Blackbird.“ „Wenn es mit den Liedern doch so einfach wäre“, reflektiert Andrea Schroeder, „die Bilder sind da. Unbedingt. Doch die daraus resultierenden Lieder schreiben sich, wann sie sich schreiben wollen, nicht unbedingt, wenn ich es will. Es ist fast so, als ob die Rose im Kopf schon eine Rose ist, dann aber beim Arbeiten am Stück erst in ihre Einzelteile zerfällt, die zusammenhanglos herumliegen. Der Stängel. Die Dornen. Die Blätter. Die Blüten.“ Die Zusammenhänge werden eher unbewusst geknüpft, und damit die Blume wiederhergestellt. Meist ausgelöst durch Gitarrenmelodien von Jesper Lehmkuhl, Andrea Schroeders Gitarristen. Sie erklingen so lange, bis es klickt und die Texte in die vorhandenen Klänge hinein explodieren. Und am Ende das Bild der Rose im Kopf mit der auf dem Notenblatt deckungsgleich ist. „Das Dazwischen passiert, unkalkulierbar und oft überraschend“, fügt die Berliner Sängerin an. „Erst wenn ein Stück eine grundsätzliche Wahrhaftigkeit, Emotionstiefe und Sinnlichkeit ausstrahlt, kommen die anderen Musiker ins Spiel“, erklärt Jesper Lehmkuhl. Und bringt damit klar zum Ausdruck, dass es sich bei „Where The Wild Oceans End“ um eine echte Bandplatte handelt. Mit von der Partie sind dabei Geigerin Catherine Graindorge, Dave Allen am Bass, Chris Hughes am Schlagzeug und Chris Eckman. Der The Walkabouts-Mann produzierte das Album nicht nur, sondern ist auch an den Tasten zu hören.

Zwischen Lebenshunger und Daseinsekel

Wie schon bei „Blackbird“ mit großen Pinselstrichen angedeutet, ist auf  „Where The Wild Oceans End“ die Atmosphäre noch düsterer, unnahbarer und mystischer. Die Rosen sind nicht zufällig schwarz. Es sind Blumen des Bösen – ganz im Sinne von Charles Baudelaire. Die düstere Aufmachung ist keine von Andrea Schroeder gespielte Rolle. Keine Attitüde. Es sind drängende Gesten aus ihrem Innern. Sie zirkulieren mit dem Blut. Von da steigen sie dann bis in die Fingerspitzen auf. und durchzucken den ganzen Körper. Die Geschichten, die Andrea Schroeder erzählt, sind lakonisch und handeln vom Großstadtmenschen. Von seiner Preisgegebenheit. Von seiner Hin- und Hergerissenheit. Von seinem Lebenshunger und seinem gleichzeitigen Daseinekel. Andrea Schroeder kultiviert dabei mit ihrer verraucht-verruchten Stimme die gewaltige Form der dionysischen Poesie. Dämonen bevölkern die Lieder. Spinnen mit fetten, haarigen Beinen kriechen ins Herz. Tote Augen öffnen den Blick und irren als Geister durch Berlin. „Doch es gibt auch die Helden der Großstadt, die die schon Dawid Bowie besungen hat“, stellt Andrea Schroeder klar, „und denen er in der Textzeile ‚Niemand gibt uns eine Chance/Doch können wir siegen’ auch den besagten Lebenshunger attestiert.“  So kommt Andrea Schroeder natürlich nicht umhin, David Bowies Stück „Helden“ für sich zu interpretieren. Dazu ist sie genau, wie der große Meister, in die legendären Berliner Hansa-Studios gegangen. So verwebt Andrea Schroeder Bruchstücke der realen Großstadt-Welt, Symbole und Sinnbilder zu einer modernen, rasanten Sinfonie der Großstadt. Die Künstlerin setzt dabei sowohl musikalisch, als auch textlich die filmische Technik der kurzen Schnitte ein, um so jedwede Lebendigkeit der Stadt plastischer werden zu lassen

Balance auf der Rasierklinge

„Doch auch eine solche Schnitttechnik der Klänge braucht Raum“, weißt Jesper Lehmkuhl, „Raum, den die Musiker zur Verfügung stellen müssen. Raum, in dem sich die Stimme und die morbiden Geschichten entfalten und wirken können.“ Das tun sie formvollendet. Da werden Klänge hingetupft. Angedeutet. Da dürfen Noten im Raum verklingen und ihn sich dabei erobern. Diese Stimmung des unwohlen Gefühls wird durch geschickt eingesetzte Effekt verdichtet. Dann sind da aber noch Violine und Gitarre, die dem gegensätzlichen Schrei nach purem Leben Klang und Ausdruck verleihen. Andrea Schroeder vollführt mit diesem Album einen wahren Balanceakt auf dem schmalen Grad einer Rasierklinge, von der sie mit unerhört scharf gestelltem Blick auf die mit Widerwillen, Unlust und Verdruss verbundene Entfremdung des Menschen gegenüber dem Großstadtdasein genau so hinunterblickt, wie auf die hellen Mächte der Stadt. Dabei verfügt die Sängerin über die seltene Fähigkeit, ihre Texte in ihre Musikalität geradezu hinein zu steigern und dabei das Unklare mit dem Klaren zu vereinigen. Auf „Where The Wild Oceans End“ aktiviert sie eine Ausdrucksfähigkeit, die bis in die letzte, feinste Möglichkeit des Sagbaren reicht und ihr Klangkosmos weist eine bisher kaum erblickte Klarheit des Schliffs auf. Andrea Schroeders gesammelten Blumen des Bösen strahlen und funkeln wie Sterne. Wie der Mond. Und wie die Sonne. Ihre Stücke haben nicht nur Klang. Sie haben Farbe. Geruch. Geschmack. Sie machen die Sinne toll. Ihre Stücke sind so gültig, zeitlos und erlesen, dass sie vor dem geistigen Auge des Hörers das Bild einer exquisiten Mitzuhörerschaft geradezu provozieren. Dazu gehören Marlene Dietrich, Juliette Gréco. Nico, Charlie Chaplin, Tom Waits, Nick Cave oder Ian Curtis.

Franz X.A. Zipperer

Andrea Schroeder

Where The Wild Oceans End

Glitterhouse Records/